2006-03-29

Traenenboom in Japan

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Japans neue Traurigkeit
Weinen im Land des Lächelns (14.03.2006)
Namida Buhmu - der Tränenboom hat Japan erfasst. Viele Menschen bekennen sich offen zu ihren Tränen. Inzwischen wird nicht mehr nur zu Hause, im Kino oder im Planetarium geweint: Auch in Unternehmen gibt es Tränenstunden für die Belegschaft.
Von Martin Fritz, ARD-Hörfunkstudio Tokio [...]

Tränen gelten nun als gut und gesund, Japan wird zum Land des Weinens. Zeitschriften veröffentlichen Umfragen zum Weinverhalten: 40-jährige ledige Männer lassen über 20 Mal im Jahr ihren Tränen freien Lauf, verheiratete 30-jährige Frauen über 30 Mal. Experten erklären, wie Weinen Stress abbaut und die Abwehrkräfte stärkt. Gezielt versuchen viele Japaner, Tränen zu erzeugen. Internetseiten listen die besten 50 Bücher und Filme, um das Weinen anzuregen, etwa die traurige Holocaust-Komödie "Das Leben ist schön". Ratgeber mit Titeln wie "Schluchzen am Wochenende" sind Bestseller. Auch die Autorin Hiromi Yasuhara weint regelmäßig: "Ich mache mein Zimmer dunkel, denn japanische Zimmer haben dieses schrecklich helle Neonlicht," sagt sie. "Dann gucke mir im Fernsehen eine Sendung an, in der auch die Moderatoren weinen."

Beim Weinen lernt man sich besser kennen
Selbst die Arbeitswelt hat die Tränenflut erreicht. Bei der Werbeagentur Bilcom treffen sich die zwanzig Angestellten regelmäßig, damit ihre Augen nass werden. Gemeinsam schauen sie sich kurze Videofilme an, die die ersten Arbeitstage einzelner Mitarbeiter dokumentieren. Über die Hälfte der Angestellten würde bei diesen Sitzungen weinen, sagt Agenturchef Shige Ota, auch den Männer liefen die Tränen leichter herunter als Frauen. Durch solch eine Sitzung lernen sich Kollegen besser kennen, erzählt eine Mitarbeiterin: "Ich hätte gedacht, dass ich alle meine Kollegen als Mensch kenne. Aber es gibt so viele Elemente von ihnen, die mir unbekannt waren."

Der 29 Jahre alte Agenturchef Ota erklärt das Konzept hinter den Tränentreffen: Das gemeinsame Weinen soll das Teamdenken und die Motivation des Einzelnen stärken: "Die Mitarbeiter sollen die ursprüngliche Entschlossenheit, mit der sie in die Agentur eingetreten sind, noch einmal fühlen," erklärt er. "Wenn man täglich sehr beschäftigt ist, vergisst man leicht, warum und wozu man hier eigentlich arbeitet."

Seine Agentur sei keine Sekte, deshalb fänden die Sitzungen nur alle drei Monate statt. Aber sie hätten eine messbare Wirkung. Der Umsatz habe sich innerhalb von zwei Jahren verdoppelt, mindestens zwanzig Prozent dieser Steigerung seien tränenbedingt. Die Tränen wirken sehr gut. "In meiner Firma ist die Abbrecherrate sehr niedrig, wir haben kaum Kündigungen," erzählt der Agenturchef Ota. "Außerdem erkenne ich in meinen Mitarbeitern die psychische Stärke, um sich Herausforderungen zu stellen und sie zu überwinden."

Sein Erfolg findet bereits Nachahmer: Mehrere Firmen wollen nun auf die gleiche Tränenmotivation setzen.

Tränenboom als sozialer Wandel
Begonnen hat der Tränenboom in Japan mit der rührselig-schmalzigen Fernsehserie "Wintersonate", die Geschichte einer sehnsüchtigen Liebe zwischen einem Koreaner und einer Japanerin. Als sich die ersten Zuschauer zu ihren Tränen bekannten, waren viele Japaner bald bereit, auch öffentlich zu weinen. Die Autorin Hiromi Yasuhara sieht einen Trend: "Neue Bücher und Filme werden jetzt damit beworben, dass sie zum Weinen sind. Sonst verkaufen sie sich nicht gut," erzählt sie.

Eine Zeitschrift kürte ein Riesenrad mit Blick auf Tokios Innenstadt als Japans besten Ort zum Weinen. Auf den zweiten Platz kam eine Bar, in der besonders traurige Lieder laufen. Der dritte Platz ging an ein Planetarium, unter einem Kosmos aus fünf Millionen künstlichen Sternen lasse sich perfekt weinen.

Hinter dem Tränenboom steckt nach Ansicht von Experten ein sozialer Wandel. Früher hätten die Japaner ihre Gefühle nicht zeigen dürfen, sondern sie stattdessen in einem Lied oder Gedicht ausgedrückt. Diese Zeiten seien vorbei, meint die Autorin Yasuhara: "Die Tränen entstehen, wenn man Mitgefühl mit anderen Menschen spürt. Die Japaner merken jetzt, dass sie mit anderen zusammenleben und auf sie achten müssen. Das funktioniert nicht, wenn man nur an sich denkt."

Schwache und Verlierer werden geachtet
Der Tränenboom sei letztlich eine Reaktion auf die gescheiterte Studenten-Bewegung der sechziger Jahre. Seitdem hätten die Japaner versucht, individueller und von anderen unabhängiger zu leben. Doch das habe sich als Sackgasse erwiesen. "Die Japaner haben jetzt gemerkt, dass die individuelle Lebensweise sehr hart und einsam ist," sagt Yasuhara. "Aus Selbstverwirklichung wird jetzt Verantwortungsgefühl, sonst macht das Leben keinen Spaß."

Die Tränen des Mitgefühls seien gut für Japan. Früher habe man hierzulande Schwache nicht geachtet. Jetzt könnten die Menschen für die Verlierer der Globalisierung Mitgefühl empfinden und sich um sie kümmern.

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